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5A_611/2023: Wirkungen eines verfrühten Verwertungsbegehrens (amtl. Publ.)

5A_611/2023: Wirkungen eines verfrühten Verwertungsbegehrens (amtl. Publ.)

von Stéphanie Oneyser am 15. April 2024

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_611/2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob eine Amtshandlung ungültig ist, wenn sie verfrüht und damit in Verletzung von Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR erfolgt ist. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass es sich bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR um eine ... weiterlesen

5A_611/2023: Wirkungen eines verfrühten Verwertungsbegehrens (amtl. Publ.)

von Stéphanie Oneyser am 15. April 2024

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_611/2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob eine Amtshandlung ungültig ist, wenn sie verfrüht und damit in Verletzung von Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR erfolgt ist. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass es sich bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR um eine Ordnungsvorschrift handelt, deren Missachtung ohne Konsequenzen bleibt, es sei denn, das Betreibungsamt hätte das Betreibungsverfahren gestützt auf ein vorzeitiges Fortsetzungs- oder Verwertungsbegehren selbst frühzeitig vorangetrieben.

Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegen A (Schuldner) leitete B (Gläubiger) eine Betreibung ein. Der Zahlungsbefehl wurde vom Betreibungsamt Zürich 1 am 30. Juni 2020 entsprechend ausgestellt. Am 16. Juni 2021 vollzog das Betreibungsamt die Pfändung in Abwesenheit des Schuldners. Die am 18. August 2021 ausgestellte Pfändungsurkunde wurde dessen Vertreter am 23. August 2021 rechtshilfeweise durch das Betreibungsamt Lugano zugestellt. Mit Schreiben vom 30. August 2021 teilte das Betreibungsamt Zürich 1 dem Vertreter des Schuldners mit, dass der Gläubiger die Verwertung der gepfändeten Vermögenswerte verlangt habe. Die rechtshilfeweise Zustellung dieses Schreibens durch das Betreibungsamt Lugano erfolgte am 18. November 2022.

Gegen die Mitteilung des Verwertungsbegehrens erhob A mit Eingabe vom 18. November 2022 SchKG-Beschwerde beim Bezirksgericht Zürich. Zur Begründung führte er u.a. aus, dass B das Verwertungsbegehren zu früh gestellt habe. Es sei deshalb unwirksam und alle daran anschliessenden Betreibungshandlungen seien nichtig. Mit Beschluss vom 21. Mai 2023 wies das Bezirksgericht Zürich die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. A zog die Sache an das Obergericht des Kantons Zürich weiter, welches die Beschwerde mit Entscheid vom 27. Juli 2023 abwies.

Dagegen erhob A mit Eingabe vom 25. August 2023 Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht. Mit Verfügung vom 20. September 2023 gewährte das Bundesgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung. Mit Entscheid vom 7. März 2024 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab.


Zeitpunkt des Verwertungsbegehrens und des Pfändungsvollzugs

Zunächst rief das Bundesgericht seine Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Verwertungsbegehrens und des Pfändungsvollzugs in Erinnerung (E. 3.1):

  • Ein Gläubiger kann die Verwertung der gepfändeten beweglichen Vermögensstücke sowie der Forderungen und der anderen Rechte frühestens einen Monat und spätestens ein Jahr, diejenige der gepfändeten Grundstücke frühestens sechs Monate und spätestens zwei Jahre nach der Pfändung verlangen (Art. 116 Abs. 1 SchKG).
  • Sowohl die Minimal- als auch die Maximalfristen beginnen mit dem Vollzug der Pfändung. War der Schuldner bei der Pfändung weder anwesend noch vertreten, so erfolgt der Vollzug erst mit der Zustellung der Pfändungsurkunde an ihn.
  • Im Gegensatz zur Maximalfrist hat der Gesetzgeber die Minimalfrist in Art. 116 Abs. 1 SchKG ausschliesslich im Interesse des Schuldners vorgesehen, um dem Schuldner die Möglichkeit zu geben, den betreibenden Gläubiger aus anderen Quellen zu befriedigen und so die drohende Verwertung abzuwenden.

Das Bundesgericht erwog, dass die Rahmenfrist, innert der das Verwertungsbegehren gestellt werden kann, im vorliegenden Fall — und entgegen dem in der Pfändungsurkunde vom 18. August 2021 angegebenen Zeitrahmen (24. Dezember 2020 bis 24. November 2021) — erst am 24. September 2021 zu laufen begann (Art. 116 Abs. 1 SchKG i.V.m. Art. 31 SchKG und Art. 142 Abs. 1 und 2 ZPO) und der Betreibungsgläubiger sein Verwertungsbegehren somit vor Ablauf der einmonatigen Wartefrist von Art. 116 Abs. 1 SchKG gestellt hat (E. 3.1).


Wirkungen eines verführten Verwertungsbegehrens

In der Folge setzte sich das Bundesgericht mit der Frage nach den Wirkungen eines verfühten Verwertungsbegehrens auseinander (E. 3.2):

  • Fortsetzungs- und Verwertungsbegehren, deren Stellung im Zeitpunkt, an welchem sie beim Betreibungsamt einlangen, gesetzlich noch nicht zulässig ist, werden nicht eingetragen, sondern dem Einsender mit der Bemerkung: «verfrüht, erst am… zulässig» zurückgeschickt (Art. 9 Abs. 2 VFRR).
  • Ausgenommen sind solche Begehren, die höchstens zwei Tage zu früh einlangen: Diese werden gleichwohl entgegengenommen und, wie die andern, in der Reihenfolge des Eingangs eingetragen. In diesem Fall wird dem Eingangsdatum das Datum des Tages beigefügt, von dem an sie zulässig sind und als gestellt gelten (Art. 9 Abs. 3 VFRR).
  • Um die mit Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR angestrebte rechtsgleiche Behandlung verfrühter Fortsetzungs- und Verwertungsbegehren zu gewährleisten, ist den kantonalen Aufsichtsbehörden zu empfehlen, den Betreibungsämtern die vorstehend dargelegten Grundsätze in geeigneter Form in Erinnerung zu rufen.

In diesem Zusammenhang erwog das Bundesgericht, dass ein verfrüht gestelltes Verwertungsbegehren insofern unwirksam ist, “als das Betreibungsamt seit je her angewiesen ist, dem Gläubiger ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren zurückzusenden”. Allerdings ist gemäss Bundesgericht die Minimalfrist in Art. 116 Abs. 1 SchKG für den Schuldner nicht hinsichtlich des Zeitpunkts des Verwertungsbegehrens, sondern des weiteren Fortgangs des Betreibungsverfahrens von zentraler Bedeutung: Weist das Betreibungsamt ein mehr als zwei Tage zu früh eingetroffenes Verwertungsbegehren vorschriftswidrig nicht zurück, sondern leistet es ihm bloss einstweilen keine Folge, bis es gestellt werden könnte, besteht kein Anlass, die folgenden Amtshandlungen als ungültig zu betrachten. Bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR handelt es sich folglich um eine blosse Ordnungsvorschrift, deren Missachtung keinen Einfluss auf die Gültigkeit der nachfolgenden Amtshandlungen hat, es sei denn, das Betreibungsamt hätte das Betreibungsverfahren gestützt auf ein vorzeitiges Fortsetzungs- oder Verwertungsbegehren selbst frühzeitig vorangetrieben (E. 3.3).

Gemäss Bundesgericht verhält sich diese Situation nämlich nicht anders, als im Falle eines vorzeitigen Fortsetzungsbegehrens (Art. 88 SchKG): Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt keine Verletzung von Art. 159 SchKG vor, wenn das Betreibungsamt ein verfrühtes Fortsetzungsbegehren zwar nicht zurückgewiesen, aber diesem immerhin einstweilen keine Folge geleistet hat, und die zur gesetzlichen Zeit erfolgte Konkursandrohung (auch auf rechtzeitige Beschwerde nach Art. 17 SchKG hin) ist nicht aufzuheben (E. 3.3).

Im vorliegenden Fall verneinte das Bundesgericht eine Verletzung von Art. 116 Abs. 1 SchKG, da das Betreibungsamt nach Eingang des Verwertungsbegehrens über ein Jahr zugewartet hatte und dem Schuldner statt der gesetzlichen Schonfrist von einem Monat ca. 14 Monate zur Verfügung standen, um die in Betreibung gesetzte Forderung samt Zinsen und Kosten “doch noch aus eigenem Antrieb zu begleichen” (E. 3.3).

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