Themen: Karriereweg, Professorin, Universitätskarriere, akademische Position, Anwältin, Fürsprecherin, Menschenrechte, Frauen- und Kinderrechte, Studium, Universität Bern.
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Guten Tag Frau Wyttenbach, wir freuen uns, dass Sie sich als Professorin der Universität Bern Zeit für dieses Interview genommen haben. Ihre Karriere hätte auch in ganz andere Bereiche führen können. Könnten Sie uns Ihren Ausbildungsweg zur Fürsprecherin schildern?
Mein Einstieg in die Studienwelt nach der Matur war nicht so gradlinig. Ich habe zuerst Geschichte und Philosophie an der Uni Basel studiert. Im dritten Jahr habe ich ein Austauschsemester an der Uni Bern gemacht. Dort habe ich Schnittstellenfächer zwischen Geschichte, Philosophie und Jus besucht – und dabei gemerkt, dass mir Jus eigentlich besser gefällt.
Also habe ich das Studium gewechselt. Meine Eltern fanden das keine gute Sache. "Jus? Viel zu trocken", meinten sie. In gewisser Weise stimmt das auch, aber Recht hat mich fasziniert, mit seinen spannenden Grundlagen, der Abstraktion, den Gestaltungsmöglichkeiten und seiner Funktion in der Gesellschaft. Ich mochte das systematische juristische Denken, die Art, wie man lernt, Probleme aufzuschlüsseln und zu lösen. Zudem war ich stark an Gerechtigkeitsfragen interessiert und dachte damals, das Recht sei ein Instrument, das man einsetzen könnte. – Meine Praktika habe ich beim Verwaltungsgericht Bern und beim Gleichstellungsbüro des Bundes gemacht. Anschliessend war ich ein Jahr im Anwält*innenpraktikum bei einer Berner Fürsprecherin und Notarin, spezialisiert u.a. auf Familienrecht und Opfervertretung. In den Praktika habe ich viel gelernt: wie geht man an juristische Probleme heran und wo liegen Potential und Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten durch Recht. Anschliessend habe ich die bernische Fürsprecher*innenprüfung gemacht (heute Anwält*innenprüfung).
... Recht hat mich fasziniert, mit seinen spannenden Grundlagen, der Abstraktion, den Gestaltungsmöglichkeiten und seiner Funktion in der Gesellschaft. - Prof. Dr. Judith Wyttenbach
Wie kam es dazu, dass Sie Professorin für Staats- und Völkerrecht werden wollten?
Das hat sich nach und nach so ergeben, ich hatte das während des Studiums und bei der Anwält*innenausbilung in keiner Weise vor Augen. Während des Studiums wollte ich Anwältin werden. Die Praktikumsstellen in der Kanzlei, beim Bund, beim Verwaltungsgericht zeigten mir dann ein bisschen, was alles möglich wäre. Während des Lernens auf das Staatsexamen war mir zuerst nicht mehr so klar, wohin die Reise gehen sollte. Damals war es so, dass am Staatsexamen öffentliches Recht sehr intensiv abgefragt wurde: eine lange schriftliche Prüfung, drei mündliche Prüfungen plus Steuerrecht, das ja auch öffentliches Recht ist. Man musste sich also ordentlich dahinterklemmen. Ich habe mich quasi mit dem intensiven Kennenlernen des öffentlichen Rechts in das öffentliche Recht verliebt. Das wollte ich vertiefen und habe dann eine Dissertation bei Walter Kälin geschrieben.
Die Assistenzzeit an der Uni habe ich in sehr schöner Erinnerung. Es war ein anregendes Umfeld mit sehr unterschiedlichen Menschen. Daneben war ich in verschiedenen Vereinigungen aktiv, z.B. bei der Infra Bern , die u.a. Rechtsberatungen für Frauen anbietet. Als ich mit der Diss fertig war, hüpfte schon ein Kind zu Hause herum und ich war erneut etwas unsicher: sollte ich zum Bund gehen, z.B. zum Bundesamt für Justiz, zur Direktion für Völkerrecht oder zum Gleichstellungsbüro, oder weitermachen? Schliesslich habe ich mich dann doch habilitiert, finanziert mit Lehraufträgen, Gutachten und einem Förderbeitrag des Nationalfonds zuerst, später als Assistenzprofessorin ohne Tenure Track. 2013 bewarb ich mich in Bern auf die Stelle, die ich heute habe.
Sie beschäftigen sich mit Menschenrechten, insbesondere Frauen- und Kinderrechten. Was war Ihre Motivation und gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Ja, Grund- und Menschenrechtsthemen haben mich immer sehr interessiert, andere aber auch, etwa Föderalismus und Staatsorganisation generell sowie das öffentliche Verfahrensrecht. Ein Beispiel, das mir besonders in Erinnerung ist: Als ich 2002 mehr zufällig begann, mich mit sog. Erziehungsgewalt gegen Kinder und der Rolle des Staates auseinanderzusetzen, hat mich dies sofort auch auf einer rechtspolitischen Ebene sehr beschäftigt: Es war und ist für mich ganz klar, dass die Rechtsordnung aus einer verfassungs- und menschenrechtlichen Perspektive Erziehungsgewalt nicht akzeptieren darf. Das gleiche Gefühl habe ich, wenn ich heute an die rechtliche Situation non-binärer Menschen denke. Diese Anmassung der Gesellschaft, das rechtliche Unsichtbarmachen und das Gefängnis der Zuweisung eines binären amtlichen Geschlechts mit allen damit verbundenen Benachteiligungen und Freiheitseinschränkungen – es müsste mit Hochdruck an einer Änderung gearbeitet werden. Andere juristische Fragen, mit denen ich mich beschäftige, interessieren mich aber ebenso, z.B. im Bereich des öffentlichen Prozessrechts.
Diese Anmassung der Gesellschaft, das rechtliche Unsichtbarmachen und das Gefängnis der Zuweisung eines binären amtlichen Geschlechts mit allen damit verbundenen Benachteiligungen und Freiheitseinschränkungen – es müsste mit Hochdruck an einer Änderung gearbeitet werden. - Prof. Dr. Judith Wyttenbach
Was schätzen Sie an Ihrer Tätigkeit als Hochschullehrerin an der Universität Bern besonders?
Die Tätigkeit an der Uni ist sehr vielseitig. Wir unterrichten Studierende und in der beruflichen Weiterbildung, betreiben Forschung, schreiben Bücher und Artikel und übernehmen Gutachten, arbeiten in Expert*innenkommissionen und betreuen Masterarbeiten und Dissertationen. Thematisch sind wir sehr frei, wir bearbeiten Fragen, die uns interessieren. Dies ist ein grosses Privileg und ich weiss es sehr zu schätzen. Sehr weit oben steht für mich die Arbeit mit den Studierenden, den Doktorierenden und die Projektarbeit mit Kolleg*innen. Ich mag es, gemeinsam an schwierigen Fragen zu kauen und Lösungen zu erdenken, und ich lerne auch viel von ihnen, von der Art und Weise, wie sie denken. Oft müssen wir über unseren eigenen Tellerrand hinausschauen, interdisziplinär überlegen oder mit anderen Fachpersonen zusammensitzen, da das Recht ja i.d.R. Materien regelt, über die wir Jurist*innen inhaltlich nichts wissen.
Ich finde es spannend, dass die Arbeit gleichzeitig theoretisch und praxisbezogen sein kann, man präzise sein muss und die Argumentation im Zentrum steht. Recht hat nicht nur eine statische, sondern auch eine dynamische Seite; die Welt um das Recht herum und das Recht selber verändern sich ständig, und diese Wechselwirkungen sind super interessant. Wie sollen wir mit den neueren Entwicklungen im Bereich der KI umgehen? Wo liegt das Potential, wo liegen die Gefahren für Grundrechte, welche Diskriminierungsrisiken gibt es? Oder: Wie begegnen wir dem Klimawandel?
Sehr weit oben steht für mich die Arbeit mit den Studierenden, den Doktorierenden und die Projektarbeit mit Kolleg*innen. Ich mag es, gemeinsam an schwierigen Fragen zu kauen und Lösungen zu erdenken, und ich lerne auch viel von ihnen, von der Art und Weise, wie sie denken. - Prof. Dr. Judith Wyttenbach
Welche Ratschläge würden Sie Studierenden geben, die eine Karriere an einer Universität anstreben?
Zunächst müsste man Freude verspüren, wissenschaftlich zu arbeiten. Im Studium merkt man das daran, dass man gerne schriftliche Arbeiten verfasst. Man muss gerne schreiben, mit Sprache hantieren. Und die Qualifikationen müssen stimmen, so setzt eine Diss einen gewissen Notenschnitt voraus. Das Institut für öffentliches Recht schreibt immer wieder Stellen aus und wir freuen uns über motivierte Bewerber*innen. Aber natürlich nicht alle, die eine Dissertation verfassen, tun dies, weil sie eine akademische Karriere anstreben. Die Dissertation ist auch sonst eine wichtige berufliche Spezialisierung und Qualifikation und eröffnet den Zugang zu weiteren beruflichen Tätigkeiten. Aber zurück zur Frage: Freude und Bereitschaft, eine Dissertation zu verfassen, wäre also der erste Schritt. Dann habe ich persönlich es als sehr bereichernd empfunden, neben der Arbeit an der Diss an Gutachten und anderen Projekten mitzuarbeiten und die Lehre kennenzulernen. Die Arbeit an der Diss ist manchmal ein K(r)ampf, mit Höhen und Tiefen, aber wenn man am Schluss sagen muss: genau, Wissenschaft ist ebenso meine Welt wie das Unterrichten und ich fühle mich hier wohl: ja, dann könnte es definitiv weiter gehen!
Anschliessend würde eine PostDoc-Phase folgen … allerdings ist dazu zu bemerken, dass die Karriere ab diesem Moment zwar gezielt geplant werden kann (z.B. Antrag an den Nationalfonds oder Bewerbung auf eine Assistenzprofessur, daneben in der Praxis tätig sein, Lehraufträge annehmen etc.), aber eine Sicherheit, dass dies dann am Ende auch klappt mit einer permanenten akademischen Position, die gibt es nicht. Ich war mir dessen stets bewusst und habe parallel immer Alternativen, also «Ausstiegszenarien» mitgedacht. Für mich wäre das z.B. eine Tätigkeit am Verwaltungsgericht oder beim Bund gewesen. Heutzutage arbeiten die Unis allerdings daran, die Prekarität und Perspektivenunsicherheit der PostDoc-Stufe zu reduzieren. Und das finde ich sehr wichtig und gut.
Vielen Dank für diesen authentischen Einblick in die akademische Welt und das Teilen Ihrer persönlichen Erfahrung, Frau Wyttenbach. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute!